„Boah, ihr lebt in Paris?!“

Wenn wir (deutschen) Menschen erzählen, dass wir in Paris leben, ist deren erste Reaktion meistens: „Ohhh, toll! Ihr Glücklichen! Das ist die absolute Stadt meiner Träume!“ Dann kriegen sie ganz plüschige Augen. Und dann fragen sie: „Und? Wie ist das so?“ Je plüschiger die Augen geworden sind, umso brutaler fällt meine Antwort aus. Ich bin nämlich ein fieses Stück. (Versuchen Sie hier also erst gar nicht, kritisch zu kommentieren. Ich weiß, wo Ihr Computer wohnt.)
Die härtesten Paris-Groupies (also jene, die immer nur im Hotel Amour absteigen, glauben, dass Steak frites die hiesige Nationalspeise ist und ausschließlich Macarons von Pierre Hermé an ihre Lippen lassen) bekommen dann zu hören: „Naja, es ist schon ein kleiner Unterschied, ob man als Tourist hier ist oder ob man hier lebt.“ Ich sage das meistens sehr langsam, damit sie es auch mitbekommen.
Den Erwachsenen erkläre ich, dass sich der Alltag in Paris nicht besonders vom Alltag in Hamburg/Wien/Castrop-Rauxel unterscheidet. Man arbeitet den ganzen Tag und knobelt dann, wer heute mit Einkaufen dran ist. Der kleine Unterschied ist, dass der Gang zum Supermarkt länger dauert als in Hamburg/Wien/Castrop-Rauxel. Auch wenn der Weg gleich lang ist. Die Pariser haben nämlich ein bemerkenswertes Gespür dafür, wie sie am besten im Weg stehen. Die haben hier einfach eine andere Einstellung. Während der Deutschsprachige von klein auf darauf gedrillt wird, anderen den Weg frei zu machen, wird dem Pariser offensichtlich beigebracht. „Wo du stehst, ist dein Revier! Ausweichen sollen gefälligst die anderen.“
Ich habe gerade nachgeschaut: Das französische Wort für Ausweichen habe ich hier noch nie gehört.
Stehen also beispielsweise zwei Pariser (miteinander bekannt oder nicht) auf dem Gehweg, dann positionieren sie sich exakt versetzt, sodass Passanten, die an ihnen vorbei wollen, die Umgehungsroute über die Straße nehmen müssen. (Varianten sind: am Ende der Rolltreppe stehenbleiben, um in aller Ruhe zu überlegen, wo man hin will, sowie: vor der Tür eines Geschäfts stehenbleiben, um in aller Ruhe zu überlegen, wo man hin will.)
Der Pariser beginnt im Supermarkt auch erst dann nach dem Geldbörsel zu kramen, wenn er – in aller Ruhe – die Einkäufe verstaut hat. Denn die Wartezeit in der langen Schlange hat er mit Sinnvollerem verbracht. In den meisten Fällen mit Telefonieren.
Dies ist besonders interessant angesichts der Tatsache, dass das Durchschnittstempo in Paris gefühlt drei Mal so schnell ist wie jenes in Hamburg oder Wien. (In Castrop-Rauxel war ich noch nie.) In den ersten Monaten unserer Paris-Zeit haben wir uns in Métro-Stationen nur joggend fortbewegt, in der Métro-Krake Montparnasse-Bienvenüe ausschließlich im Sprint. Wenn mir der Gatte dort etwas Wichtiges mitteilen wollte („Ich krieg keine Luft mehr“/“Das ist die falsche Richtung“/“Dein Rock steckt schon wieder in deiner Strumpfhose“), habe ich immer nur atemlos geantwortet: „NICHT JETZT! Sag’s mir, wenn wir wieder oben sind!“
Mittlerweile kann ich mit den Freunden aus den alten Heimaten nur noch spazierengehen, wenn ich dabei zwei Bierkisten schleppe.
Zum Leben in Paris gehört auch der Umgang mit Handwerkern. Darüber kann ich leider noch nicht sprechen. Geben Sie mir noch ein bisschen Zeit, dieses Trauma zu verarbeiten.
Aber natürlich gehört es für Paris-Expats genauso dazu, über Paris zu motzen, wie es für Paris-Touristen dazugehört, Sonnenuntergänge mit einer Flasche Wein auf dem Pont des arts zu bewundern. Es gibt sehr viele sehr wunderbare Facetten des Lebens in dieser Stadt.
Diese hier zum Beispiel:
Mehr darüber hier.
Die Straße ist in Paris öffentlicher Versammlungsraum – seit etwa vier Jahrhunderten ist sie der Ort von Revolutionen, Revolten, Fronden. Deutschen hingegen dient die Straße als Verkehrsverbindung #clashofcivilizations
🙂 Sehr geschmunzelt. Und ich dachte immer, die Touris stünden ständig im Weg. Vielleicht sind wir Deutsche aber auch nur so auf Effizienz gedrillt und überlegen schon beim Laufen, wie der Weg am besten abzukürzen sei oder wie das Einkaufen noch schneller geht (Geldbörse schon im Anschlag, Betrag abgezählt in der Hand). Dabei geht der Spaß schon auch ein bissl verloren. Mir ging es mal in Italien so, dass ich den hektischen Betrieb hinter der Theke eines Tabacchi beobachtete und zu meinem Mann meinte: „Die wären viel effizienter, wenn einer sich um den Kaffee kümmern würde, der andere abkassierte und der Dritte die U-Bahn-Karten verkaufte.“ Antwort: „Gott, ist das deutsch!!“ Recht hat er 🙂 Ich les‘ jetzt hier jedenfalls öfter mit. Schöner Einstieg! Liebe Grüße, Julia
Psst, ganz unter uns? Ich erkläre hier den Franzosen sogar, wie sie viel besser Rugby spielen würden. Nicht, dass ich dieses Spiel auch nur im Ansatz kapiert hätte …
Dankeschön!
Über das Phänomen des überall im Weg Rumstehens und nicht Ausweichens haben wir uns kürzlich in Vietnam aufgeregt. Jetzt weiß ich wenigstens woher die das haben!
„am Ende der Rolltreppe stehenbleiben, um in aller Ruhe zu überlegen, wo man hin will, sowie: vor der Tür eines Geschäfts stehenbleiben, um in aller Ruhe zu überlegen, wo man hin will… im Supermarkt auch erst dann nach dem Geldbörsel zu kramen, wenn er – in aller Ruhe – die Einkäufe verstaut hat“
Jetzt weiß ich endlich, was der olle Goethe meinte, als er Leipzig Klein-Paris nannte 😉
Doch sehr schmunzeln müssen! 🙂 Den Weg im Supermarkt verbauen, Portemonnaie erst zücken wenn auch wirklich alles verstaut ist (extreme Hindernisse hier: Blumen oder Glasflaschen aller Art das kann dauern) ist in London genau so, nur wenn ich hier gnadenlos den Weg freischaufele (kommt ja auch mal vor) entschuldigen sich andere bei mir… daran gewöhn‘ ich mich nur schwer. 🙂
Der Blog ist ZUUUUUU schön.
Und das „pardon“ – „pardon“ beim Wegschubsen eines lebenden Hindernisses schützt selbst den militantesten Adrenalinausschütter vor Handgreiflichkeiten. Schön finde ich auch immer wieder die Familientreffen vor den Kühlregalen (im Sommer) oder in der Warmluftschneise (im Winter) der Supermärkte. Mit den Einkaufswagen in Güterwaggongröße nicht leicht zu umschiffen.
Aber all das ist mir lieber als der vorauseilende Gehorsam der Kunden in D, die bereits das Einkaufsgeld abgezählt bereithalten noch bevor die Kassiererin die Summe vormurmelt und in großer Hektik ihre Einkäufe in die Tüten schmeißen aus Angst vor dem eventuell bewaffneten Nachrücker, der den rechten Ellenbogen schon in Richtung linkem unteren Rippenbogen des Einpackers ausgefahren hat. Da gehen bei mir alle Lichter aus und ich sehne mich hzurück nach den verschränkten Armen der lächelnden Kassiererin, die geduldig auf ihr Geld warten kann.
Herrlich, was Du über den Alltag in Paris schreibst! Schreibst du über Paris? Den Text könnte ich gerade so übernehmen und Paris durch Rom ersetzen!
Einziger Unterschied: Das Durchschnittstempo der Fußgänger. Das ist bei Römern ungefähr dreimal so lang wie in Hamburg oder Wien oder Frankfurt! Wenn Du zwei Römer vor Dir hast, dann musst Du Dein Leben riskieren und auf die Strasse ausweichen, sonst schlägst Du Wurzeln.
Wunderbar, dieses Blog gefunden zu haben!
Einen ganz herzlichen Gruß aus Rom
Ariane
Vielen Dank! Aber beim Sprechtempo sind sie sich ähnlich, die beiden, nicht? Und ich glaube, bei den täglich am Handy zurückgelegten Gesprächsminuten ebenfalls.
Lieben Gruß zurück nach Rom!
Das unterschreibe ich sofort! 🙂
Wenn einen die Art der Pariser störend erscheint, dann passt man einfach nicht in diese Stadt. Ich kann diese Eigenart nicht bestätigen.
Wunderbar – und ich dachte schon, bloß mein Mann (Franzose) sei so ein InDerGegendHerumsteher … Nach 38 Jahren in Deutschland muss ich ihn, z.B. in der Küche , erst aus dem Weg schubsen, bevor ich an Herd/Waschbecken/Mülleimer komme 😉